Vom äußeren zum inneren Tanz durch Auflösen einer gegenseitigen Abhängigkeits- und Erwartungs-Blockade: Wie Tango-Coaching unbewusst wirkende Herausforderungen aufgreifen und lösen kann.
Ein Tangopaar ringt mit der klassischen Beziehungsproblematik von zu hoher gegenseitiger Abhängigkeit: Er macht sein Tanzerleben davon abhängig, dass sie ihm Bestätigung durch ihr Lächeln gibt. Sie wiederum vermeidet es, ihre eigenen Bedürfnisse nach mehr Präsenz und Klarheit auszusprechen. Was beide nicht erkennen: Ihre Versuche, es dem anderen recht zu machen, verhindern genau die tänzerische Verbindung, nach der sie suchen. Sie sind in einer Negativ-Spirale verstrickt. Das war das Thema meiner letzen Stunde im Bereich zwischen Tango und Psychologie, in der ich zu meiner Freude meine Kompetenzen als Mindful Motion Tango-Coach, Tanztherapeutin, NARM Therapeutin, Persönlichkeits-Coach, harmonisch integrieren konnte.
Eine Stunde mit Blick unter die Oberfläche
Eine persönliche Anmerkung: Ich habe gerade meine Ausbildung zum NARM-Praktiker abgeschlossen. NARM steht für "Neuro-Assoziative Relationship Model" (ja, ein etwas komplizierter Name).
Diese Methode eignet sich wunderbar, um solche komplexen inneren Prozesse und "Strategien" als die früh erlernten Schutz- und Bewältigungsstrategien zu erkennen und gemeinsam zu erforschen. Auf dieser Basis können sich dann Schritt für Schritt neue, "erwachsenere" und vielfältigere Möglichkeiten des Erlebens, Begegnens und Verhaltens entwickeln.
In dieser Tango-Coaching Stunde geschah etwas Besonderes. Als ich seelisch-emotionale Fragen in das Tango-Coaching einbrachte, öffnete sich ein größerer Raum für eine unerwartete, sehr positive Entwicklung.
Ermutigt und total motiviert durch meine NARM-Ausbildung traue ich mich immer mehr, auch in nicht-psychotherapeutischen Settings Fragen nach dem tieferen Herzenswunsch, explorative Fragen und meine innere NARM-Haltung in die Stunden einzubringen. Solche Fragen beschreiben gut die Ziele der Methode, mit der ich hier Tango Coaching mit Psychodynamik verbinde.
Das im Laufe der Zeit gewachsene Vertrauensverhältnis zwischen uns ermöglichte es uns, gemeinsam behutsam und zugleich sehr ehrlich hinter die Oberfläche ihres Tanzes und ihres Miteinanders zu schauen.
Und das passierte in dieser Stunde
Hier ein kurzer Überblick über das was in dieser Stunde ablief.
Der entscheidende Moment: vor dem Tanz
Also fragte ich sie vor dem Tanzen: "Wie geht's dir jetzt? Was würdest du dir in Bezug auf deinen Tanz wünschen? Was würdest du gerne erleben?" Das sind Fragen, die man im klassischen Tangounterricht nicht hört. Dort geht es im Wesentlichen um die Tanzform, nicht um den Tänzer mit seinen persönlichen Anliegen.
Ich habe bewusst den Fokus vom Äußeren auf das Innere gelenkt. Denn die äußeren Wünsche haben einen Grund - eine innere Motivation. Es ging mir darum, von der äußeren Wunschstrategie zum inneren Erleben zu kommen.
Was ist das eigentliche Bedürfnis hinter dem geäußerten Wunsch? Oder der erhoffte Zustand hinter dem Bedürfnis? Manchmal entpuppen sich unsere Wünsche und Bedürfnisse als eine Zwiebel mit vielen Schichten. Am Kern angekommen, spüren wir meist sehr deutlich eine körperlich-energetische Reaktion und eine starke emotionale Berührung.
Seine anfängliche Herausforderung
Für ihn war die Frage zunächst gar nicht so einfach zu beantworten. Spontan sagte er, er wolle "erdig laufen" und sich "cool fühlen". Das war sein äußerer Wunsch. Ich hakte nach: "Was bedeutet für dich "cool"? Was wäre, wenn du dich cool fühlen würdest? Was wäre dann anders?"
Er spürte in sich hinein. Und erklärte zunächst, dass er einen schlechten Tag gehabt habe. Er sei etwas "grumpy", weil er mit seiner Arbeit unzufrieden sei. Ich lächelte ihn freundlich an und sagte: "Jetzt bist du hier. Lass dir Zeit. Finde heraus, was du wirklich willst."
Die erste Öffnung
Ich spürte eine gewisse Offenheit und manchmal eine schüchterne Ambivalenz. Einerseits waren sie da, um zu tanzen, andererseits spürte ich ein ehrliches Interesse an dem tieferen Vorgängen zwischen ihnen als Paar. Es war ein vorsichtiges Abtasten, das am Ende erstaunlich viel bewegte. Er sprach dann sehr ehrlich aus, was er sich wünschte: cool und erdig tanzen zu können, so dass seine Frau ihn total glücklich anstrahlt!
Tango Coaching und Psychologie: Die überraschende Erkenntnis
Ich griff das auf: Es schien, als sei das "erdige Laufen" nicht das Zentrale, sondern seine Strategie, seine Frau zum Lächeln zu bringen und glücklich zu machen.
Das führte mich zu einer tieferen Frage, sozusagen zur zweiten Schale der Zwiebel: Was steckte dahinter? War es ein echter Wunsch oder eher eine Schutzstrategie für etwas Tieferliegendes?
Oberflächlich betrachtet war sein Wunsch verständlich. Aber was verband ER mit einem Lächeln von ihr? Bestätigung, Anerkennung? Das war zumindest meine "Arbeitshypothese" (auch so ein NARM-Begriff), die sich aus meinem konkreten Gefühl für ihn in diesem Moment ergab.
Natürlich ist nicht jeder Wunsch nach Anerkennung gleich ein Hinweise auf Defizite - wie alle brauchen Anerkennung. Aber hier vermutete ich eine "Kompensation" als seine untergründig hohe Abhängigkeit von ihrer Bestätigung. Und dies führte zu Partnerschaftsstress. Und dann zu Tango-Stress.
Ihre unerwartete Reaktion
Und so war es auch: Seine Partnerin war nicht glücklich darüber, dass er sie glücklich machen wollte. Im Gegenteil: Sie hatte das Gefühl, etwas falsch zu machen, weil sie ihn anscheinend nicht genug anlächelte und zufriedene Freude zeigte.
Diese gegenseitige unbeabsichtigte Wirkung spiegelte ich ihnen.
Zumindest theoretisch könnte sie sich darüber freuen, weil er es ja nur gut mit ihr meint (aus seiner Sicht). Oder sie könnte seine Aussage erst einmal so stehen lassen, weil sie weiß, dass sie ihn ja anlächelt. Sie würde es aber als Kritik an sich selbst auffassen. Was auf eigene ungelöste Themen hinweisen könnte.
Ihr schwieriger Moment
Als ich auch sie nach ihrem Wunsch fragte überlegte sie lange. Dann meinte sie, das könne sie jetzt nicht sagen. Denn es würde ´"alles kaputt machen" bzw. könnte nach hinten losgehen.
Ich erwiderte, das wäre eine zu überprüfende ihre Annahme bzw. Befürchtung. Sicher wissen könne sie es nicht, wenn sie es nicht wagte. Ich fragte, ob sie es hier, in diesem geschützten Setting, mit meiner Unterstützung vielleicht versuchen wolle. Ich betonte, es ginge ja vielleicht weniger darum, was er eventuell mit ihrer Aussage machen könnte.
Statt dessen dürfe es für sie ja auch darum gehen auszudrücken, was ihr wichtig ist und zu dem zu stehen, was sie fühlt. Denn vielleicht wolle sie ja die Beziehung aktiv mitgestalten.
Der Durchbruch ihrer Wahrheit
Sie brauchte einen Moment. Dann äußerte sie: Sie wünsche sich mehr Klarheit und körperliche Präsenz von ihm - etwas, das nur manchmal da ist. Vor allem in meiner Gegenwart. Sie wünschte sich diese Qualität von ihm auch, wenn ich als Coach nicht dabei wäre.
Die Verstrickung der Bedürfnisse
Diese gegenseitige Offenheit musste von den beiden ersteinmal verarbeitet werden! Beide fühlten sich vom anderen kritisiert. Beide gaben sie sich Mühe sich es dem anderen recht zu machen. Nun zeigte sich, das diese Bemühungen irgendwie nicht genügten. Keiner von beiden schien "es" gut genug machen zu können. Sie erkannte seine Anstrengungen übrigens durchaus an, aber das zu hören, schien seinen Frust eher noch schlimmer zu machen.
Die Wendung zur Selbststärkung
Mein Fokus war, jeweils den Ausdruck ihres authentisches Selbst zu unterstützen. In dem Fall ihren Mut, im Kontakt miteinander zu sich selbst zu stehen.
Ich fragte: Wie ist es für euch, das mal so ehrlich auszusprechen? Zu eurer Wahrheit zu stehen? Ich war neugierig, was nun im Paar geschehen würde und ob die genannten Befürchtungen wirklich eintreten würden.
Es ging für sie darum, sich mit der eigenen Wahrheit gegenüber zu stehen, ohne diese gegen sich selbst oder den anderen zu richten. Das war für sie herausfordernd, da Gefühle wie "ich bin nicht genug" oder "es reicht mal wieder nicht" bzw. "ich reiche nicht" aufkamen - damit waren sie beide konfrontiert.
Sie erkannten durch das Aussprechen ihre "Projektionen", die Art, wie sie ihre eigenen Befürchtungen im anderen zu sehen glaubten.
Der erste Tanz auf neuer Grundlage
Nach diesem Prozess wagten sie ihren ersten Tanz - und es war beeindruckend. Plötzlich war die häufige symbiotische Vermischung verschwunden. "Symbiotisch" bedeutet hier eine letztendlich behindernde, abhängige Verschmelzung miteinander. Im NARM würden wir sagen, eine Symbiose aus frühkindlichem Bewusstsein versus einer bewussten, zeitlich begrenzten, gefühlten Verschmelzung zweier erwachsener, eigenständiger Individuen.
Plötzlich stand da ein Mann, der viel mehr bei sich war, viel mehr in sich ruhte. Er war innerlich im positiven Sinne nicht mehr darauf fixiert, es ihr recht zu machen und sie zum Strahlen zu bringen - und damit viel mehr ein eigenständiges Gegenüber, das aus sich heraus klare Orientierung gab.
Seine Energie war im Becken und Rücken zentriert, ohne dass ich es explizit angesprochen hätte. Er wirkte auf mich aufrecht und sehr männlich. So hatte ich ihn im Tango-Coaching noch nicht erlebt.
Die sichtbare Veränderung
Seine Körpersprache und Außenwirkung hatten sich fundamental verändert. Plötzlich sah ich einen Mann und eine Frau, zwischen denen ein Raum entstanden war. Es fühlte sich an, als wäre jeder durch das Aussprechen gewachsen, dadurch mehr in seiner Integrität und Selbstermächtigung (dies ist so ein NARM-Begirff aus dem Englischen: "self-empowerment").
Symbolisch gesprochen, standen sie sich wirklich gegenüber, statt in einer unbewussten Abhängigkeit von der Bestätigung des anderen miteinander verschränkt zu sein. Und das, obwohl sie ja in der Tango-Umarmung physisch durchaus verschränkt waren.
Als Tango-Coach (diesmal nicht als Therapeutin), bemerkte, das ihr Tango klarer und viel ausdrucksstärker war. Ich sah sieh viel mehr als Mann und Frau miteinander. Es war paradoxerweise eine wesentlich grössere Verbundenheit bei gleichzeitig mehr Raum zwischen ihnen vorhanden - sie "begegneten" und sahen sich wirklich.
Das ist für mich Tango! Ich war echt berührt.
Seine neue Präsenz
Eine richtige männliche Energie ging von ihm aus, wie ich sie noch nie bei ihm gesehen hatte. Sonst war er immer sehr flexibel in seinen Bewegungen, mit viel Swing im Becken, wich irgendwie aus, es gab ablenkende Umwege in der Körpersprache. Das sind Dinge, die mir mit meiner langen Tangoerfahrung sofort auffallen.
Früher, wenn er mit richtig viel Energie losgelegt hat, dann ist das über das Ziel hinausgeschossen und sie konnte damit nichts anfangen, konnte das nicht mittanzen, weil er nicht klar genug war und sein Schwung dann eher Probleme bereitet.
All das war verschwunden.
Der weitere Verlauf der Stunde
Die Stunde entwickelte sich weiter in dieser Qualität. Nach jedem Tanz schauten wir, was passierte, wie es sich anfühlte. Ich unterstützte sie darin, die Dinge auszusprechen, zu konfrontieren und sich selbst klar zu machen, was gerade der Unterschied war.
Er suchte anfänglich immer wieder die Veränderung im Außen. Er konnte das innere Verändert-Sein zunächst kaum wahrnehmen. So fremd war das für ihn. Aber seine Partnerin erlebte und sah seine Veränderung ganz stark, ebenso wie ich. Sie strahlte!
Und sie lief zu Bestform auf. Sie konnte sich nun viel besser tänzerisch einbringen, sich auf Musik und Gestaltung konzentrieren. Was wiederum dazu führte, das er sie mehr spürte und sich mit ihr verbundener fühlte.
Er hatte erreicht, das sie happy war. Aber auf einem anderem Weg, als er angenommen hatte.
Es war eine echte Sternstunde für die beiden - ich hatte sie noch nie so gut tanzen sehen.
Und ich hatte auch etwas gelernt von den beiden.
Comments